PROGNOSE: AUSGESTRAHLT
Seit Jahrzehnten propagieren interessierte Kreise die Renaissance der Atomenergie. Die Wirklichkeit sieht anders aus: Milliardenverluste, Zeitverzögerungen und erneuerbare Energien, die zunehmend kostengünstiger werden.
In den 50er Jahren wurde Atomstrom angepriesen als »too cheap to meter«, zu billig, um den Verbrauch zu messen, heute erweist er sich als »too expensive to matter«, zu teuer, um relevant zu sein. Im Jahr 2021 wurden weltweit zehn Atommeiler endgültig stillgelegt, davon drei in Deutschland, und die installierte Kernkraftleistung sank um 2,4 Gigawatt. Zum Vergleich: die Erneuerbaren verzeichneten einen Rekordzubau von 290 Gigawatt. Zwischen 2011, dem Jahr der Fukushima- Katastrophe, und 2021 wurden, wenn man einmal von China absieht, weltweit 69 Meiler heruntergefahren und nur 20 neue in Betrieb genommen – ein offensichtlicher Rückgang. Und der Neubau von Atomkraftwerken ist für moderne Strommärkte praktisch irrelevant geworden.
Atomkraftwerke erzeugen heute in 34 Ländern Strom und haben weltweit einen Anteil von rund zehn Prozent an der kommerziellen Stromproduktion. Damit sinkt der Beitrag der Atomwirtschaft seit 1996 kontinuierlich, als ihr Anteil am Strommix den historischen Höchststand von 17,5 Prozent erreichte. Berücksichtigt man Mobilität und Wärmebedarf, tragen Atomkraftwerke heute weltweit nur 4,3 Prozent zur Deckung des kommerziellen Primärenergiebedarfs und weniger als zwei Prozent der tatsächlich genutzten Endenergie bei. Nahezu alle Indikatoren zeigen, dass die Atomindustrie vor vielen Jahren ihren Höhepunkt erklommen hat: Im Jahr 2002 erreichte die Zahl der im Betrieb befindlichen Reaktoren mit 438 einen Höchststand, Anfang 2022 waren es noch 412; die Atomstromproduktion war 2006 am höchsten. In den Jahren 1984 und 1985 gingen jeweils 33 Meiler erstmals ans Netz, 2021 waren es sechs, obwohl noch zu Jahresbeginn 16 angekündigt waren. Darunter der erste der beiden 100-MW-Blöcke in Shidao Bay in China, ein kleiner modularer Reaktor (SMR), dessen Bau 2012 begann und doppelt so lange dauerte wie geplant. 1979 waren 234 Meiler im Bau – ein absoluter Höhepunkt, Anfang 2022 waren es 49; 1976 wurde mit dem Bau von 44 Reaktoren begonnen: ein historisches Maximum; 2021 waren es noch zehn, sechs davon in China.
Entsprechend dieser Entwicklung sinkt die Bedeutung von Atomkraft kontinuierlich, während die von Sonne, Wind und Wasser unaufhörlich wächst: Die jährliche Stromproduktion aus Erneuerbaren Energien ist von 2010 bis 2020 um rund 3 200 Terawattstunden (TWh) gestiegen, die Atomstromproduktion nahm um 68 TWh ab (s. Abb.).
Die Gründe dafür sind einfach zu erklären: Unabhängig von allen Risiken und Gefahren ist Kernenergie mit Kohle und Gas nicht mehr konkurrenzfähig, und inzwischen auch nicht mit Wind und Sonne. Investitionen in den Neubau von Atommeilern sind immer teurer und zu einem wirtschaftlichen Abenteuer geworden. Jeder achte Neubau der Nukleargeschichte wurde vor seiner Inbetriebnahme aufgegeben. Im Jahr 2017 hat es nach dem Bankrott des Herstellers Toshiba- Westinghouse zwei Meiler am Standort Virgil C. Summer im US-Bundesstaat South Carolina getroffen, obwohl die Projektträger bereits fünf Milliarden US-Dollar in das Projekt investiert hatten. Hitachi hatte 2012 mit der Übernahme der britischen Horizon Nuclear Power Ltd. die Lizenz zum Bau von zwei Siedewasser-Reaktoren in Wylfa an der walisischen Küste erhalten. Wegen fehlender privater Investor*innen legte der Konzern das Projekt 2018 zunächst auf Eis und schrieb es 2020 mit einem Verlust von 2,4 Milliarden Euro endgültig ab. Das ist das Dreifache dessen, was Hitachi den beiden deutschen Stromkonzernen E.ON und RWE für die Übernahme von Horizon Nuclear Power, der Eigentümerin von Wylfa, gezahlt hatte. Das japanische Unternehmen Toshiba, das bei der Insolvenz seiner ehemaligen Tochtergesellschaft Westinghouse rund sechs Milliarden US-Dollar verloren hatte, zog bei allen Atomprojekten in Übersee, einschließlich Moorside in Großbritannien, den Stecker.
Vor allem aus wirtschaftlichen Gründen wurden komplette nationale AKW-Neubauprogramme abgebrochen oder »ausgesetzt« – zum Beispiel in Chile, Indonesien, Jordanien, Litauen, Südafrika, Thailand und Vietnam. Das Ausbleiben der »Renaissance der Atomkraft« hatte dramatische finanzielle Auswirkungen auf die Atomkonzerne. Sowohl der historisch wichtigste AKW-Bauer Westinghouse musste Insolvenz anmelden, als auch die französische Areva, die sich selbst zur »Weltmarktführerin in der Atomenergie« ernannt hatte. Areva hatte über einen Zeitraum von sechs Jahren einen Verlust von 10,5 Milliarden Euro angehäuft.
Verursacht haben die finanziellen Schwierigkeiten zum großen Teil Neubauprojekte, deren Fertigstellung sich immer weiter hinauszieht und deren Kosten dramatisch wachsen. Im finnischen Olkiluoto wird der erste europäische Druckwasserreaktor (EPR) gebaut. Baubeginn: 2005, geplante Fertigstellung: 2009. Im Laufe des Jahres 2022, mit 13 Jahren Verzögerung, soll die reguläre Stromerzeugung erfolgen. Vergleichbar der Bau eines Meilers in Flamanville/Frankreich. Baubeginn: 2007, geplante Fertigstellung: 2012. Der Reaktor soll nach einer endlosen Reihe von technischen und industriellen Debakeln nun frühestens 2023 in Betrieb gehen. Der Französische Rechnungshof schätzt die Kosten des Abenteuers auf mittlerweile 19 Milliarden Euro, sechsmal so viel wie zu Beginn kalkuliert worden war. Der finnische EPR sollte etwa 3 Milliarden Euro kosten, inzwischen sind die Kosten auf jeweils knapp 11 Milliarden Euro gestiegen.
Im Dezember 2013 erhielt der französische Staatskonzern EDF den Auftrag zum Bau der beiden Meiler Hinkley Point C1 und C2 in Großbritannien. Kalkulation: 16 Milliarden britische Pfund. Bereits 2017 wurden die Fertigstellungskosten auf 19,6 und 2019 nochmals auf 21,5 bis 22,5 Milliarden britische Pfund erhöht – fünfmal so viel, wie ursprünglich für den ersten EPR in Finnland kalkuliert worden war. Der weltweit erste EPR, der Strom erzeugte, ist Taishan-1, gebaut in China zwischen Oktober 2009 und Juni 2018 – ebenfalls deutlich hinter dem Zeitplan und mit erheblichen Kostensteigerungen. Taishan-2 folgte 2019.
Aber auch bestehende Atomkraftwerke geraten unter wirtschaftlichen Druck, und viele können auf liberalisierten Energiemärkten nicht mehr bestehen. Sechs US-Reaktoren sind bereits vorzeitig stillgelegt worden, weitere sollen folgen. Im September 2020 hatte die Exelon Generation die Stilllegung von vier Atommeilern in Illinois angekündigt, weil sie nicht mehr wettbewerbsfähig sind. Erst nachdem der Senat von Illonois am 13. September 2021 694 Millionen US-Dollar für die angeschlagene Nuklearsparte bewilligte, stoppte Exelon die für diesen Tag angekündigte Entnahme der Brennelemente. Atomkraft verbucht seit Jahren auch öffentlich sichtbar deutlich steigende Kosten. Wind- und Solaranlagen sind dagegen immer kostengünstiger geworden und können inzwischen mit bestehenden Kernkraftwerken und fossilen Brennstoffen konkurrieren (s. Abb. oben und S. 56/57).
Wirtschaftlich hat Atomkraft keine Zukunft und ist ohne staatliche Subventionen nicht überlebensfähig. Die Betreiber versuchen mit Laufzeitverlängerungen für bestehende Anlagen zu überleben, was das Katastrophenrisiko deutlich erhöht. Und oft werden neue AKWs nur aus militärischen und strategischen Gründen gebaut.
Weiterführende Informationen
• Mycle Schneider, Antony Froggatt et al.: World Nuclear Industry Status Report 2021, als PDF auf worldnuclearreport.org