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FRANKREICH: VOM NATIONALEN MYTHOS VERBLENDET

Seit Jahrzehnten setzt Frankreich auf Nuklearwaffen und Atomkraft. Im eigenen Land hat es über 80 000 Tonnen Uran gefördert, bevor die letzte Mine 2001 geschlossen wurde. Niger wird für einen nationalen Mythos bis heute ausgebeutet. Dabei kostet es Milliarden Euro, ohne die der Atomsektor längst pleite wäre

In Frankreich wird an höchster Stelle der Mythos gepflegt, die Atomkraft sei untrennbar mit dem Schicksal der Nation verbunden. Ende 2020 erinnerte Präsident Emmanuel Macron das Volk daran, dass nicht nur »unsere energetische und ökologische Zukunft von der Kernenergie abhängt«, sondern auch »unsere wirtschaftliche, industrielle« und »strategische Zukunft«. Kurz: Der atomare Sektor entscheidet über

Lebensqualität, Unabhängigkeit und Größe des Landes. Dieser Mythos hat eine lange Geschichte: Im Rahmen des globalen Wettrüstens entschied sich auch Frankreich, ein eigenes Atomprogramm aufzulegen. Präsident Charles de Gaulle ließ bereits am 18. Oktober 1945 das »Commissariat à l’énergie atomique« (CEA) gründen. 1949 wurde das Atomwaffenprogramm gestartet, 1956 das AKW Marcoule in Betrieb genommen, das ausschließlich waffenfähiges Plutonium lieferte, und 1960 der erste von vier Atombombentests in der algerischen Sahara durchgeführt.

Voraussetzung für diese Entwicklung: Uran, der Rohstoff des Atomzeitalters. Deshalb wurde in ganz Frankreich seit 1949 danach gesucht. Fündig wurden CEA und die 1976 eigens dafür gegründete »Compagnie générale des matières nucléaires« (Cogema, später Areva, heute Orano) an rund 400 Standorten. Während es in circa 150 Fällen bei Probebohrungen blieb, sind 247 Anlagen in Betrieb gegangen: Minen im Untertage- und/oder Tagebau, acht Uranfabriken sowie 17 Lagerstätten für die Reste aus dem Uranbergbau, unter anderem mit kontaminiertem Schlamm.

Zwischen 1954 und 2003 holten CEA, Cogema und Areva insgesamt 80 978 Tonnen Uran aus dem französischen Boden und hinterließen dabei 200 Millionen Tonnen Erzgestein, wegen seines geringen Urangehalts als »steril« bezeichnet. Die meisten Minen lieferten geringe Erträge, nur in 20 überstieg die Jahresproduktion 1 000 Tonnen. 1985 war bei der Produktion der Zenit überschritten, 2001 wurde das letzte einheimische Uranbergwerk geschlossen.

Gewöhnlich schüttete Areva den Eingang unterirdischer Minen nach ihrer Stilllegung mit sterilem Gestein zu und begrünte Tagebau-Anlagen und Abraumhalden. Bis zur Jahrtausendwende gab der Konzern für diese Art der Sanierung umgerechnet knapp 121 Millionen Euro aus. Im Juni 2006 verabschiedete die französische Regierung ein Gesetz, das ein nachhaltiges Management von radioaktivem Material vorschreibt und die Altlasten des Uranbergbaus einschließt, weil das Strahlenforschungs-Institut CRIIRAD immer wieder Messungen durchgeführt und auf Missstände hingewiesen hat. Umfangreichere Sanierungsarbeiten nahm Areva jedoch erst auf, nachdem 2009 eine TV-Reportage für große Empörung gesorgt hatte. Wenn jedoch Anwohner*innen mit Geigerzählern auf Erkundung gehen, messen sie auch heute regelmäßig Werte weit über der normalen Hintergrundstrahlung. Felder, Wälder und Wiesen sind betroffen, mancherorts aber auch Schulhöfe, Gewerbehallen und Sportanlagen: Hier war der sogenannte Steril-Schotter entsorgt worden.

Wegen seiner begrenzten einheimischen Vorkommen, suchte Frankreichs Atom-Industrie schon früh in Frankreichs (ehemaligen) Kolonien nach Erzlagern; den Auftakt gab 1960 eine erste Uranlieferung aus Gabun. 1971 folgte Niger mit 430 Tonnen Uran. Der Großteil der 152 000 Tonnen, die dort bis 2020 gefördert wurden, ging nach Frankreich.

Für Niger ist die Bilanz nach 50 Jahren Ausbeutung wenig erbaulich. Das Land hat nur etwa 12 Prozent des Wertes für das geförderte Urans erhalten und ist nie vom Podest der drei ärmsten Länder der Welt heruntergekommen. Dabei hat das nigrische Uran ein Drittel der Stromerzeugung Frankreichs gedeckt und damit enorm viel zur wirtschaftli chen und industriellen Entwicklung des Landes beigetragen. Und obwohl Areva/Orano auch Minen in anderen Ländern besitzt, ist Frankreich für sein Militärprogramm nach wie vor ausschließlich vom Uran aus Niger abhängig.

Niger wurde 1960 zwar von Frankreich unabhängig, die einstige Kolonialmacht wusste jedoch seine Interessen durchzusetzen: Die Selbstständigkeit wurde nur im Austausch gegen Abkommen gewährt, die Frankreich die Kontrolle über die Uranvorkommen sicherten – und nachdem die eigentlichen Führer der Unabhängigkeitsbewegung physisch oder politisch ausgeschaltet worden waren. In Niger übernahm Hamani Diori, ein überzeugter Frankophiler, die Staatsgeschäfte. Der Staatspräsident errichtete ein autoritäres Einparteienregime, das von französischen Berater*innen betreut wurde. Als 1968 und 1970 die Société des mines de l’Aïr (Somaïr) und die Cominak gegründet wurden, erhielt Niger nur 20 Prozent der Anteile und musste sehr vorteilhafte Steuerbestimmungen einräumen. Von da an mischte sich Frankreich immer wieder in das politische Leben des Landes ein, um seine Privilegien zu sichern.

Ermutigt durch den Anstieg der Rohstoffpreise Anfang der 70er Jahre, forderte Präsident Diori, den Uranpreis zu erhöhen, 1974 wurde er durch einen Militärputsch gestürzt. Der neue Diktator Seyni Kountché respektierte bis zu seinem Tod 1987 die französischen Wirtschaftsinteressen. Die französische Diplomatie unterstützte dann 1996 einen weiteren Militärputsch. Mit dem 1999 gewählten Präsidenten Mamadou Tandja blieben die Beziehungen lange Zeit gut, bis dieser 2006 ebenfalls versuchte, den Uranpreis zu erhöhen. Gleichzeitig brach er das Monopol von Areva und führte China in den Uranabbau in Niger ein. Frankreich musste dieses Mal nachgeben, der Uranpreis wurde verdoppelt und Areva erhielt ein neues Vorkommen: Imouraren.

Tandja wurde allerdings von Paris fallen gelassen und durch einen erneuten Staatsstreich gestürzt. Der 2011 gewählte Mahamadou Issoufou war wieder ein Verbündeter Frankreichs, insbesondere als Frankreich ab 2013 seinen »Krieg gegen den Terrorismus« in der Sahelzone begann. Einer der Gründe für die französische Militärpräsenz war der Schutz der nigrischen Uranminen von Areva, in deren Umgebung es zu Geiselnahmen gekommen war.

Areva bezeichnete sich lange Zeit als Weltmarktführer im Bereich der zivilen Atomkraft. Der Konzern wäre aber ohne staatliche Hilfe bankrottgegangen: Die beiden Druckwasser- Reaktoren (EPR) in Olkoliuto/Finnland und Flamanville/ Frankreich entwickelten sich zu einem finanziellen Debakel, und für wertlose Uranvorkommen in der Zentralafrikanischen Republik, in Namibia und Südafrika hat Areva 2007 einen astronomischen Preis gezahlt.

Baubeginn des EPR in Flamanville war 2007, geplanter Betriebsbeginn 2012. Nach einer endlosen Reihe von technischen und industriellen Debakeln soll der Reaktor frühestens 2023 ans Netz gehen. Der französische Rechnungshof schätzt die Kosten des Abenteuers auf mittlerweile 19 Milliarden Euro, sechsmal so viel wie ursprünglich kalkuliert.

Die Electricité de France, die Areva übernehmen und vor dem Bankrott retten musste, sieht deshalb keine Möglichkeit, vor Mitte der 2030er Jahre weitere neue Kernkraftwerke in Betrieb zu nehmen. Sie hat nicht die Mittel dazu. Ihre Strategie basiert nun auf der Verlängerung der Lebensdauer eines Teils des derzeitigen Kraftwerksparks. Die atomare Aufsichtsbehörde hat ihre grundsätzliche Zustimmung bereits gegeben. Dass unter diesen Voraussetzungen der von Präsident Macron verkündete Bau neuer Atomkraftwerke verwirklicht werden kann, ist sehr unwahrscheinlich.

Weiterführende Informationen

• Neokolonialismus in Afrika: Raphaël Granvaud, Areva en Afrique: Une face cachée du nucléaire français

• Uranminen: Das Erbe der französischen Uranminen, Suzanne Krause, 54 Minuten, deutschlandfunk.de

• Dachorganisation französischer Anti-Atom-Gruppen: sortirdunucleaire.org

• Film: »The Curse of Uranium«, 25 Min.