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Atomkatastrophen: VON MAJAK ÜBER CHURCH ROCKBIS FUKUSHIMA

Super-GAU und Dammbruch, Reaktorfeuer und Explosionen: Was nicht passieren darf, geschieht doch immer wieder.

Die Geschichte der Atomenergie ist auch eine Geschichte ihrer Katastrophen. Majak, Windscale, Harrisburg, Church Rock, Tschernobyl und Fukushima heißen die Chiffren des Schreckens. Sechs Standorte, an denen die Atomkraft außer Kontrolle geriet. Sechs Stationen, die den Niedergang einer euphorisch gestarteten Technologie beschleunigt haben. Nach 70 Jahren »friedlicher Nutzung der Kernenergie« gehören geschmolzene Reaktorkerne, unbewohnbare Gebiete, radioaktive Wolken und eine unbekannte Zahl von Toten zur Bilanz.

Zu den Katastrophen gehört aber auch der Versuch, sie zu verheimlichen oder zu bagatellisieren. Vertuschung ist fester Bestandteil dieser Technologie. Die große Ausnahme war zunächst die dreifache Kernschmelze in Fukushima im März 2011. Der neue Nachrichtenkosmos des Internets sandte die Bilder der kollabierenden Atommeiler als schemenhaftes Live-Event rund um die Welt. Doch die Folgen werden auch in Japan bis heute verharmlost: Gesundheitsschäden, das Ausmaß der Verseuchung, die Hilflosigkeit der Helfer*innen und die gewaltigen Kosten. Gleich im ersten Jahrzehnt verlor die Atomkraft ihre Unschuld. Dabei war die Begeisterung für Flugzeuge und Autos mit Atomantrieb oder für Kleinreaktoren in jedem Haushalt gerade erst entfacht worden. Doch der Geist aus der Uranmaschine, der die Welt verändern sollte, zeigte in Majak und Windscale seine dunkle Seite.

  1. Oktober 1957. Im Nordwesten Englands, an der Küste zur Irischen See, bricht im Atomreaktor Windscale I ein Feuer aus. Durch fehlerhafte Temperaturanzeigen und anschließende Bedienfehler bei Wartungsarbeiten haben sich die Brennelementkanäle überhitzt. Kanal 20/53 glüht rot wie eine Kirsche. Alle Versuche, den Reaktor herunterzukühlen, schlagen fehl: Die Temperatur im Kern steigt auf 1300 Grad: Windscale brennt. Während im Herzen des 2000 Tonnen schweren Grafitblocks ein Feuer lodert, entweicht aus dem Schornstein ständig radioaktiver Rauch. Die Menschen in der Umgebung liegen ahnungslos in ihren Betten. Alle Löschversuche mit Kohlendioxid und Wasser scheitern. Im dritten Anlauf gelingt es schließlich, die Flammen zu ersticken. Die Bevölkerung wird erst nach dem Löschen des Brands gewarnt. Die Milch umliegender Farmen wird eingesammelt und ins Meer geschüttet; rund um den Reaktor versickern Millionen Liter radioaktives Löschwasser.

Bis 1990 werden 70 Untersuchungsberichte zum Windscale-Brand geschrieben. Die Forscher*innen versuchen, die freigesetzte Strahlung in Krebstote umzurechnen. Man einigt sich auf 100 Opfer. Eine Leukämiewelle sorgt in den 1980er Jahren für Aufregung, bis die Erinnerung allmählich verblasst. Heute ist Windscale auch sprachlich entsorgt, der Atomkomplex heißt jetzt Sellafield. Im selben Jahr, am 29. September 1957, explodiert im russischen Majak ein Tank mit hochradioaktiven Abfällen. Gleich zehn Reaktoren gehören dort zur Atombombenschmiede der Sowjetunion. Sie liefern den Militärs Plutonium für das sowjetische Kernwaffenprogramm. Schon im Normalbetrieb gelangen ungeheure Mengen Radioaktivität in die Umwelt. Nukleare Partikel und Abfälle werden über die Luft und direkt in den Fluss Tetscha entsorgt. Weil die Anwohner*innen Strahlenschäden aufwiesen, wurde bereits 1953 das erste Dorf im Umfeld evakuiert; bis 1956 folgten weitere 18.

Als es ein Jahr später zur vulkanartigen Explosion kommt, ist sie Hunderte Kilometer weit zu sehen und wird offiziell zur Polarlicht-Erscheinung erklärt. Die radioaktive Wolke zieht in 1000 Metern Höhe nach Nordosten: eine 40 Kilometer breite, 300 Kilometer lange Spur. Eine Fläche von 20000 Quadratkilometern mit etwa 270000 Einwohner*innen ist radioaktiv verseucht. Immer neue Gebiete müssen evakuiert werden.

Die Explosion bleibt geheim, bis sie Moskau 1989 bestätigt. Nach der Bewertung der Internationalen Atomenergie-Agentur gilt sie nach Tschernobyl und Fukushima als drittschwerster Atomunfall der Geschichte. Expert*innen des Helmholtz-Zentrums München stellen ihn auf dieselbe Gefahrenstufe wie Tschernobyl. Die freigesetzte Radioaktivität könnte in Majak sogar größer gewesen sein.

Die Atommacht USA erlebte ihre Katastrophe 1979 gleich zweifach. Im März kämpft eine kontinuierlich wachsende Expert*innenschar gegen den außer Kontrolle geratenen Reaktor Three Mile Island bei Harrisburg. Als tonnenschwerer Sturzbach ergießt sich der glühende Reaktorkern auf den Grund des Reaktordruckbehälters, der wie durch ein Wun­der standhält. Drei Viertel des Kerns aus 36816 Brennstäben sind bei Temperaturen nahe 2800 Grad geschmolzen. Ausgefallene Kühlwasserpumpen, zwei falsch gestellte Ventile bei den Reservepumpen, ein Zettel auf dem Steuerpult, der die Ventilanzeige verdeckt, und mehrere Bedienfehler haben das Unglück ausgelöst.

Kinder und Schwangere im Acht-Kilometer-Umkreis werden evakuiert. 70000 Menschen fliehen aus eigener Initiative. Niemand weiß, wieviel Radioaktivität tatsächlich in die Umwelt gelangt ist. Unvergessen ist das Statement des Vize-Gouverneurs von Pennsylvania, Bill Scranton: »Wir haben alles unter Kontrolle. Es gibt keine Gefahr für die Gesundheit und Sicherheit der Bevölkerung.«

Im Juli desselben Jahres schockiert der Dammbruch von Church Rock die US-Atomindustrie. Church Rock ist ein Dorf im Land der Diné im Bundesstaat New Mexico. 20 Uranminen sind dort in Betrieb. Allein in der größten von ihnen werden in den 1970er Jahren jährlich mehr als 1000 Tonnen Uranoxid produziert. Hunderttausende Tonnen radioaktiver Abraum werden in großen Absetzbecken entsorgt. Am 16. Juli 1979 bersten die Mauern eines der Staubecken. Über 1000 Tonnen strahlende Abfälle und geschätzte 360 Millionen Liter radioaktive Abwässer landen im Puerco River – bis heute der schwerste Atomunfall in der Geschichte der USA. Drei Jahre später gibt die Uranindustrie den Standort auf.

Vor allem Church Rock und Majak sind weitgehend unbekannt geblieben. Dagegen kennt jedes Kind die Namen der beiden »klassischen« Super-GAU-Standorte Tschernobyl und Fukushima. Sie lieferten spektakuläre Bilder und ließen sich nicht geheim halten. Zudem war die Weltöffentlichkeit 1986 und erst recht 2011 sensibilisiert für das Katastrophenpotenzial der Atomkraft.

Millionen konnten mitverfolgen, welchen Weg die radioaktiven Wolken nahmen. In Japan wurde nach der Fukushima- Havarie sogar die Evakuierung des Großraums Tokio mit 30 Millionen Einwohner*innen erwogen. Nach Tschernobyl versuchten Armeeflugzeuge die Regenwolken chemisch zu entladen, bevor sie nach Moskau ziehen konnten. Viele Details sind bekannt geworden, doch das Leid und die gesundheitlichen Folgen für Millionen sind im statistischen Rauschen verschwunden. Von Windscale bis Fukushima: Die sechs Namen stehen für Unfälle, die nach einschlägigen Risikostudien gar nicht oder nur einmal in hunderttausend Jahren hätten geschehen dürfen. Sie sind mehrfach passiert, ihre Spuren noch lange nicht beseitigt.

Weiterführende Informationen

• Bernward Janzing: Vision für die Tonne, Picea 2016
• Stephanie Cooke: Atom. Die Geschichte des nuklearen Irrtums, K&W 2010