„Deutschland muss den Export von Uranhexafluorid nach Russland stoppen“

Insgesamt 12.000 Tonnen abgereichertes Uran sollen bis Ende 2022 von der Urananreicherungsfabrik Urenco in Gronau quer durch Europa nach Russland verfrachtet werden. Russische und deutsche Umweltorganisationen protestieren dagegen mit einem offenen Brief. Wir fragten Oleg Bodrov, einen der Initiatoren. Interview: Horst Hamm

Herr Bodrov, in einem offenen Brief appellieren Sie und insgesamt 47 NGOs sowohl an Präsident Wladimir Putin als auch an Kanzlerin Angela Merkel, den Export von abgereichertem Uranhexafluorid von Deutschland nach Russland zu stoppen. Um was geht es dabei genau?

Die deutsche Urenco GmbH aus Gronau reichert Uran mit Uran-235 an, um frischen Kernbrennstoff für Atomkraftwerke herzustellen. Dadurch wird abgereichertes Uranhexafluorid, sogenanntes UF6, angehäuft. Die russische Nuklearindustrie behauptet, über effizientere Aufbereitungstechnologien zu verfügen, und importiert seit etwa 30 Jahren UF6. Über 1,2 Millionen Tonnen lagern inzwischen in Containern unter freiem Himmel in geschlossenen Nuklearstädten in den Regionen Ural und Sibirien. Denn nachdem das abgereicherte Uranhexafluorid wieder angereichert wurde, werden maximal zehn Prozent der gesamten Menge wieder nach Deutschland zurückgeführt. Der gesamte Rest dieses chemisch-toxischen und radioaktiven Materials bleiben in Russland. Zur weiteren Verwendung gibt es dafür keine sozial- und umweltverträglichen Technologien.

Wie stark ist der Widerstand gegen diese Transporte?

Seit Anfang der 2000er Jahre kam es zu Massenprotesten von NGOs. Sergey Kiriyenko, der 2005 der Chef des russischen Atomkonzerns Rosatom wurde, sagte daraufhin, dass die Verträge zur Lieferung von UF6 nicht mehr verlängert werden sollten. Die Importe wurden um 2010 eingestellt. Vor ungefähr einem Jahr wurden die Lieferungen wieder aufgenommen. Greenpeace Russland hat dagegen mehr als 70.000 Unterschriften von russischen Bürgern gesammelt. Und die Russisch-Sozial-Ökologische Union brachte 34 russische NGOs dazu, öffentlich dagegen zu protestieren. Unsere Organisation, der Öffentliche Rat der Südküste des Finnischen Meerbusens, sammelte Unterschriften von Einwohnern des Leningrader Gebiets, die entweder in der Nähe des Hafens Ust-Luga, wo der Atommüll aus Deutschland ankommt, oder entlang der Route der gefährlichen Ladung leben.

Es unterstützen also sowohl ganz normale Bürger als auch NGOs den offenen Brief...

... ganz genau! Die Besonderheit dieser Kampagne besteht darin, dass wir sowohl NGOs als auch föderale, regionale und kommunale Abgeordnete sowie Bürgerinnen und Bürger Deutschlands und Russlands darum bitten, unseren offenen Brief zu unterstützen. Die Unterschriftensammlung geht weiter. Die endgültige Liste wird kommenden Montag, den 15. Juni, vorliegen.

Welche NGOs sind konkret dabei?

Neben unserer Organisation unterstützen aus Deutschland der BUND, das Aktionsbündnis Münsterland gegen Atomanlagen und die Nuclear Free Future Foundation den offenen Brief, aus Russland die Russisch-Sozial-Ökologische Union, Friends of the Earth Russland, Ecodefense sowie NGOs aus den Regionen Ural, Sibirien, Wolga, St. Petersburg und Tatarstan. Wir werden die vollständige Liste am Montag, den 15. Juni, veröffentlichen.

Kann man das abgereicherte Uranhexafluorid als Atommüll bezeichnen?

Vertreter der Atomindustrie sprechen von einem Wertstoff. Aber wenn es keine wirtschaftlich machbare, sozial- und umweltverträgliche Recyclingtechnologie gibt, ist es nichts anderes als Atommüll. De facto ist dies eine Manifestation der Kolonialpolitik Europas – und da schließe ich den europäischen Teils Russlands ausdrücklich mit ein – , gegenüber den asiatischen Regionen Ural und Sibirien, die durch die Produktion von Atomwaffen und zahlreiche Unfälle in geheimen Nuklearanlagen ohnehin bereits stark radioaktiv verseucht sind.

Das Material müsste also an einem sicheren Ort in Deutschland endgelagert werden ...

Ja, natürlich. Wenn die deutsche Atomwirtschaft nicht über eine kostengünstige, sozialverträgliche Technologie zur Aufbereitung von abgereichertem UF6 verfügt, dann ist das Abfall. Gemäß dem Basler Übereinkommen über die Kontrolle der grenzüberschreitenden Verbringung gefährlicher Abfälle und ihrer Entsorgung vom 22. März 1989 muss die deutsche Wirtschaft eine Lösung für die sichere Lagerung dieser Materialien in Deutschland finden. Der Export von abgereichertem Uranhexafluorid verlagert die Probleme von Deutschland nach Russland, ist aber keine Lösung.

Ist es für Urenco also nur eine kostengünstige Art, den strahlenden Müll zu entsorgen?

Selbstverständlich! Laut deutschem Atomrecht darf Atommüll nicht exportiert werden. Deshalb bezeichnet ihn Urenco einfach als Ressource und schickt ihn nach Russland. Für Urenco ist es eine einfache und billige Lösung, den Abfall loszuwerden. Die deutschen Behörden machen das mit. In Russland wiederum gibt es ein russisches Nuklearunternehmen, das das Territorium Russlands nutzt, um diese Abfälle im Land zu lagern und mit dieser Lagerung Geld zu verdienen. Diese Strategie wird weder von der russischen Gesellschaft noch von der russischen Regierung kontrolliert. Daher gibt es KEINE Transparenz und KEINE demokratischen Mechanismen für die Beteiligung der Öffentlichkeit an der Entscheidung, ob abgereichertes UF6 aus Deutschland importiert werden darf. Fehlende Transparenz und fehlende demokratische Strukturen sind die wichtigsten Wettbewerbsvorteile des russischen Nukleargeschäfts im Vergleich zu Konkurrenten aus anderen Ländern.

Warum macht die russische Regierung das mit?

Präsident Putin entzog den Staatskonzern Rosatom der Kontrolle der russischen Regierung. Stattdessen ließ er ein Kuratorium einrichten, das Rosatom überwachen soll und dessen Mitglieder er selbst ernannt hat. Innerhalb Russlands gibt es deshalb eine Art Rosatom-Land. Es ist wie bei einer Matrjoschka. Im Inneren der großen Holzpuppe Russland befindet sich eine kleine nukleare Puppen-Matrjoschka. Diese nukleare Matrjoschka will durch Geschäfte mit anderen Ländern Geld verdienen. Dabei haben sämtliche Wünsche der Atomindustrie in Russland Priorität, denn damit sichert sich Russland die Erneuerung seiner Atomwaffen. Die russische Zivilgesellschaft hat darauf keinen Einfluss.

Was passiert mit dem Atommüll in Russland?

Die Behälter mit dem importiertem Uranhexafluorid werden in vier speziellen Atomstädten des Rosatom-Landes im Ural und in Sibirien auf Betonflächen unter freiem Himmel gelagert.

Ist damit Russland die Müllkippe für deutschen Atommüll?

Ganz genau!

Wann war der letzte Transport?

Der letzte Transport mit dem Schiff Michail Dudin lieferte am 15. Mai 600 Tonnen abgereichertes Uranhexafluorid in den russischen Hafen Ust-Luga nahe der estnischen Grenze. Der nächste wird für Montag, den 15. Juni, erwartet.

Solche Transporte gab es schon zwischen 1996 und 2009. 2009 wurde der Export von Deutschland noch Russland jedoch nach massiven Protesten russischer und deutscher Umweltschützer gestoppt. Wissen Sie, warum diese Exporte wieder aufgenommen worden sind?

Die Manager von Rosatom behaupten, dass sie über Technologien zur Verarbeitung von abgereichertem Uranhexafluorid verfügen. Dass diese Technologien es ermöglichen werden, frischen Brennstoff nicht nur für traditionelle thermische Neutronenreaktoren, sondern auch für zukünftige schnelle Reaktoren herzustellen. Aber sie haben keine überzeugenden Beweise dafür vorgelegt, dass diese Technologien wirtschaftlich rentabel und sozial-ökologisch akzeptabel sind.

Geht es einfach nur um viel Geld?

Nach meiner Einschätzung ist Geld die Hauptmotivation.

Wer ist für die Sicherheit in Russland verantwortlich?

Zum einen Rostekhnadzor, die Aufsichtsbehörde für nukleare Sicherheit und Strahlenschutz in Russland und zum anderen der sogenannte Föderale Sicherheitsdienst.

Können diese Institutionen die Sicherheit gewährleisten?

Ich denke, nein. Aber das ist überall ein Problem, nicht nur in Russland.

Was erfährt die Öffentlichkeit in Russland von diesen Transporten?

Wir haben nur Informationen von befreundeten deutschen NGOs. Vielen Dank dafür. In Russland haben diese Informationen den Status Staatsgeheimnis.

Sie kritisieren in Ihrem offenen Brief, dass diese Transporte die Sicherheit der Bewohner der Ostsee-Region gefährden sowie der Gebiete, durch die die gefährlichen Güter transportiert werden, insbesondere aber die Bewohner der Ural- und sibirischen Regionen. Was genau kann passieren?

Theoretisch könnte ein schwerer Unfall in einem Umkreis von über 30 Kilometern um die Unglücksstelle tödliche Konzentrationen erzeugen. Das hat die britische Nuclear Fuel Ltd. schon 1978 festgestellt. Und die Atomenergiebehörde IAEA bestätigte 1998, dass bei Transportunfällen mit Großbränden große Mengen Uranhexafluorid freigesetzt werden können.

Und langfristig?

Der Ural und die sibirischen Regionen Russlands könnten zu einem internationalen Standort für die Lagerung nicht nur von abgereichertem Uranhexafluorid, sondern auch von abgebrannten Kernbrennstoffen werden, also hochradioaktivem Atommüll. Angesichts der Intransparenz der Rosatom-Projekte und der undemokratischen Verfahren halte ich dies für durchaus möglich, zumal nahezu alle Staaten mit Atomkraftwerken keine Lösung für die Endlagerung ihres Atommülls haben. Das könnte langfristig zu einer radioaktiven Verseuchung des Ob und des Jenissej führen, der größten Flüsse Eurasiens. Die kommenden Generationen könnten mit der radioaktiven Verseuchung der Arktis konfrontiert werden.

Was erhoffen Sie sich von Kanzlerin Angela Merkel und Präsident Putin?

Die Bundesregierung muss den Export von Uranhexafluorid nach Russland stoppen. Das Kuratorium von Rosatom könnte umgekehrt den Import verbieten. Darüber hinaus sollten gemeinsame Kriterien und Sicherheitsstandards für gemeinsame Projekte mit nuklearem Material entwickelt werden, die dann in unseren beiden Ländern in gleicher Weise angewendet werden. Nicht zuletzt hoffe ich auf die Beteiligung der Öffentlichkeit auch in Russland.

Wie gefährlich ist es für Sie und Ihre Mitstreiter persönlich, einen derartigen Brief zu veröffentlichen und Präsident Putin damit öffentlich zu kritisieren?

Das kann ich nicht einschätzen. Es ist ein Experiment.

Bringt Ihnen und Ihren Mitstreitern Öffentlichkeit in Deutschland Sicherheit?

Ja, mit Sicherheit!

Zu Oleg Bodrov: Oleg Bodrov ist Präsident des Öffentlichkeitsrats der Südküste des Finnischen Meerbusens. Früher leitete er die NGO Green World, musste die Leitung jedoch abgeben, weil er auf Grund seiner Kritik als ausländischer Agent eingestuft wurde. 2010 wurde er mit dem Nuclear Free Future Award ausgezeichnet.

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