„Rosatom ist der geopolitische Arm Putins“

Framatome ist über seine Tochter Advanced Nuclear Fuels Betreiber der deutschen Brennelementefabrik in Lingen. Bereits vor zwei Jahren versuchte der staatliche französische Atomkonzern über ein Joint Venture den ebenso staatlichen russischen Atomkonzern Rosatom an der Brennelementeproduktion zu beteiligen. Mit dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 wurden die Pläne abgeändert. Framatome gründete das Joint Venture in Frankreich, will aber weiterhin in Lingen mit russischer Hilfe Brennelemente für AKW russischer Bauart in Osteuropa herstellen. Wir fragten Wladimir Sliwjak und Matthias Eickhoff.

Wladimir Sliwjak, Träger des Alternativen Nobelpreis, Foto: Right Livelihood Award
Interview: Franza Drechsel/Rosa Luxemburg Stiftung und Horst Hamm/Nuclear Free Future Foundation

Herr Eickhoff, können Sie uns erklären, warum Framatome den russischen Atomkonzern Rosatom an der Brennelementeherstellung in Lingen beteiligen will? Was genau ist geplant?

Matthias Eickhoff: Dazu gibt es zwei Antworten. Zum einen ist die französische Atomindustrie stark von russischen Uranlieferungen abhängig und hat zudem schon 2021 eine langfristige strategische Partnerschaft mit Rosatom unterzeichnet. Und zum anderen möchte Framatome – eine Tochter des staatlichen Energiekonzerns EdF – über die Partnerschaft mit Rosatom neue Kunden in Osteuropa gewinnen. Es geht also um Wachstum. In diesem Fall möchte Framatome von Lingen aus die Brennelementeherstellung für Osteuropa übernehmen. Das geht aber nur in Partnerschaft mit Rosatom, weil dort Atomkraftwerke sowjetischer Bauart stehen und deren technisches Design so anspruchsvoll ist, dass Framatome für sich allein viele Jahre dafür benötigen würde.

Widerspricht das nicht allen Sanktionsplänen der Europäischen Union gegenüber Russland, um damit Druck auf den Aggressor Russland auszuüben?

Eickhoff: Ja natürlich! Frankreich ist eines der Länder, das zusammen mit Ungarn innerhalb der EU neue Sanktionen im Atombereich konsequent abblockt. Es kann aber nicht sein, dass ausgerechnet in diesem gefährlichen Bereich Wirtschafts- und geopolitische Interessen Vorrang vor sicherheitspolitischen Erwägungen bekommen. Die EU – und insbesondere Frankreich – macht sich hier unglaubwürdig. Auch von der Bundesregierung vermissen wir dazu mehr politischen Einsatz.

Herr Sliwjak: Welche Rolle spielt Rosatom beim Krieg gegen die Ukraine und speziell bei der Besetzung des ukrainischen Atomkraftwerks Saporischschja mit seinen sechs Reaktoren?

Wladimir Sliwjak: Als strategisches Instrument des Kremls schafft und erhält Rosatom geopolitische Abhängigkeiten aufrecht. Diese Abhängigkeiten beruhen auf der Förderung der Atomenergie, haben aber Auswirkungen weit über den Energiesektor hinaus. Rosatom ist als staatlicher Konzern für Atomwaffen zuständig und Präsident Putin direkt unterstellt. Damit ist Rosatom sowohl direkt als auch indirekt in den Krieg gegen die Ukraine verwickelt. So spielte es beispielsweise eine Schlüsselrolle bei der Übernahme des Atomkraftwerks Saporischschja durch Russland, was es seitdem besetzt und verwaltet. Außerdem hat Rosatom russischen Waffenherstellern, die Sanktionen unterliegen, angeboten, wichtige Komponenten zu liefern. Da Rosatom nicht mit Sanktionen belegt ist, ist das Unternehmen im internationalen Handel wesentlich flexibler als sanktionierte Unternehmen. Trotzdem arbeitet die europäische Atomindustrie weiterhin eng mit Rosatom zusammen, zum Beispiel indem  Rosatom Uran an die Brennelementefabrik in Lingen/Deutschland liefert. Rosatom ist auch an der geplanten Erweiterung der Anlage beteiligt. Wenn das Geschäft zustande kommt, kann Russland seinen politischen Einfluss in Deutschland und der EU trotz des Krieges ausbauen.

Framatome ist die Kraftwerkssparte vom französischen Energiekonzern EdF. Russland hat Frankreich als weltweit führenden Player in Sachen internationaler AKW-Produktion abgelöst. In der Türkei hat Rosatom den ersten Atommeiler fertiggestellt. Er soll demnächst ans Netz gehen. In Indien, Bangladesh, Ägypten, den Vereinigten Arabischen Emiraten: überall ist Rosatom dabei, neue AKW zu bauen. Ist es Zufall, dass ausgerechnet diese beiden Konzerne in Lingen zusammenarbeiten wollen?

Sliwjak: Das ist kein Zufall. Framatome arbeitet seit Jahrzehnten mit Rosatom zusammen, auch beim Bau neuer und der Nachrüstung alter Atomreaktoren. Diese Zusammenarbeit wäre ohne die direkte Zustimmung des Kremls nicht möglich, und auch die französische Seite benötigt die Zustimmung ihrer Regierung. Framatome und Rosatom sind keine Konkurrenten, sondern gute Freunde. Frankreichs Präsident Macron spricht sich öffentlich für die Ukraine aus, und gleichzeitig arbeitet das ihm direkt unterstellte Atomunternehmen mit Putins Rosatom zusammen. Das ist eine Tatsache, und es ist eine gefährlich dumme Haltung der französischen Seite. Es ist, als würde man einen Fuchs in eine Hühnerfarm setzen und hoffen, dass er die Hühner respektiert. Lächerlich!

Welches Interesse hat Rosatom an dieser Zusammenarbeit? Die Brennelementefabrik in Lingen würde das technische Wissen und die Lizenz bekommen, sechseckige Brennelemente für Reaktoren russischer Bauart, sogenannte VVER-Reaktoren, herzustellen. Darauf hat Rosatom derzeit ein Monopol. 18 Reaktoren in Finnland, Tschechien, Ungarn, in der Slowakei und Bulgarien sind von solchen Reaktoren abhängig...

Sliwjak: Sowohl Framatome als auch Rosatom können das Risiko von Sanktionen gegen die russische Atomindustrie nicht ignorieren. In der Vergangenheit konnten sie dies wirksam verhindern, aber dieses Problem wird nicht verschwinden, es ist eine tickende Bombe für Rosatom. Für Framatome ist es ein Glücksfall, der es dem Unternehmen ermöglicht, seine Brennstoffversorgung dort auszuweiten, wo es zuvor nicht hingehen konnte. Für Rosatom ist die Gründung eines Joint Ventures in Europa eine Möglichkeit, im europäischen Atomgeschäft zu bleiben und Zugang zum Brennstoffmarkt zu haben. Mit einem Anteil von 20 % an der europäischen Uranversorgung ist es möglich, Einfluss auf Kunden und den Markt zu nehmen. Und wir kennen immer noch nicht die Details ihres Vertrags – beispielsweise ob Framatome Rosatom im Gegenzug zu diesem Joint Venture Zugang zu ihren Geschäften gewährt.

Liegt das Interesse Rosatoms also im Zugang zu den Geschäften Framatomes?

Sliwjak: Nein, es ist viel mehr als das! Rosatom ist in erster Linie ein geopolitischer Arm Putins, nicht nur ein Unternehmen, das Geld verdienen will. Deshalb kann man den Krieg in der Ukraine auch nicht stoppen, indem man Putin Geld oder irgendwelche lukrativen Geschäfte anbietet. Er weiß, dass er, wenn er den Krieg gewinnt, viel mehr bekommen wird als das, was man ihm heute anbieten kann. Also wird er weitermachen. Die Europäer*innen müssen wirklich aufwachen und erkennen, mit wem sie es zu tun haben. Der einzige Deal, der für Putin heute akzeptabel ist, wäre, wenn Europa seine Überlegenheit akzeptiert und die Ukraine aufgibt. Und darauf wird automatisch die stückweise Übernahme Europas folgen – entweder durch einen hybriden Krieg oder einen echten. Es ist wirklich traurig, dass es Menschen in Europa gibt, die der russischen Propaganda über die Ukraine glauben und hoffen, dass ein Verzicht auf die Unterstützung der Ukraine helfen wird, einen Krieg mit Russland zu vermeiden. Das wird Putin nur zeigen, dass Europa durch rohe Gewalt erobert werden kann. Ein Fuchs wird eine Hühnerfarm übernehmen, wenn der Besitzer Angst vor einem Fuchs hat. Wollen Sie Rosatom wirklich in Lingen haben, glauben Sie wirklich, dass sie etwas Gutes für Europa tun werden? Die Ingenieure von Rosatom werden nach Lingen kommen, zusammen mit Agenten des russischen Geheimdienstes – sie kommen immer zusammen. Warum, glauben Sie, werden sie kommen? Um Sie zu erfreuen? Framatome will Geld verdienen, aber kapitalistische Gier kann tödlich sein. Warum sollte Deutschland bei diesem Selbstmord mitmachen?

Was könnten und sollten Deutschland und die EU tun, um die Abhängigkeit von Rosatom in Europa und auf dem Weltmarkt zurückzudrängen?

Sliwjak: Zuallererst sollten die Deutschen verstehen, dass sich Russland in einem hybriden Krieg mit dem Westen befindet und dass sie Teil dieses Westens sind. Sie können es jeden Tag offen im staatlich kontrollierten Fernsehen in Russland hören, niemand versteckt sich. Rosatom ist eines der Instrumente in diesem hybriden Krieg. Die Deutschen haben die Wahl, sich zu ergeben oder nicht. Wenn sie sich dagegen entscheiden, wenn sie Ihre Freiheiten und Werte, auch für die künftigen Generationen, bewahren wollen, dann darf Rosatom nicht die Möglichkeit bekommen, in Europa zu arbeiten. Ich weiß, dass ich mit diesen Sätzen den inneren Frieden vieler Menschen stören werde, aber das ist die Realität - sie zu ignorieren wird teuer werden. Wir leben heute in dieser Realität, weil in der Vergangenheit die kapitalistische Gier in Europa so groß war, dass sie wahrscheinlich Putin zum reichsten Menschen der Welt gemacht hat und er irgendwann mehr als nur Geld wollte. So ist das normalerweise mit den Reichen, wenn man sie nicht durch Gesetze und die öffentliche Meinung kontrollieren kann, und Putin ist eindeutig außer Kontrolle geraten. Russischer Brennstoff in Lingen, Siemens Energy/Framatome-Beteiligung an neuen Rosatom-Reaktoren – das sind nur einige Beispiele. Es gibt noch Demokratie in Deutschland, also nutzen Sie sie – fordern Sie von deutschen Politiker*innen ein Vorgehen gegen Kriegsverbrecher.

Eickhoff: Ich kann nur ergänzen, dass wir dringend mehr Sanktionen auf EU-Ebene brauchen. Aber eigentlich müssen sich Deutschland und die EU endlich von der Atomenergie verabschieden und den Ausbau Erneuerbarer Energien drastisch vorantreiben. Das muss das Ziel sein, um wirtschaftlich, sicherheitspolitisch und klimapolitisch endlich im 21. Jahrhundert anzukommen. Die Zeit drängt!

Das grün geführte Umweltministerium in Niedersachsen ist dafür zuständig, dass die Genehmigung für den Einstieg von Rosatom erteilt wird. Ist es nicht absurd, dass in Kriegszeiten überhaupt nur die Möglichkeit erwogen wird, dass ein russisches Staatsunternehmen auf deutschem Boden in welcher Form auch immer wirtschaftlich tätig wird?

Eickhoff: Uns wäre natürlich lieber gewesen, wenn sich die niedersächsische Landesregierung und die Bundesregierung schon im Vorfeld mit der französischen Regierung auf den Verzicht auf dieses gefährliche Projekt geeinigt hätten. Aber immerhin kommt nun durch die Auslegung der Antragsanlagen die Öffentlichkeit mit zum Zug. Das heißt, wir brauchen eine informierte öffentliche Debatte über diese Art von geopolitischer Atompolitik, die hier im Emsland stattfindet.

Ist die geplante Kooperation nicht ein weiteres Indiz dafür, dass der deutsche Atomausstieg endlich zu 100 Prozent vollzogen werden muss und auch die Brennelementefabrik in Lingen und die Urananreicherungsanlage in Gronau geschlossen werden müssen?

Eickhoff: Wir haben schon seit Jahren gesagt, dass die Stilllegung dieser beiden Atomanlagen dringend notwendig ist, um den Atomausstieg glaubwürdig zu vollenden. Der Betrieb der Brennelementefabrik und der Urananreicherungsanlage führt zwangsläufig zur Verwicklung in atompolitische und internationale Krisen und Konflikte. Die Kooperation mit Rosatom ist ein Beispiel, aber der in Gronau aktive Urananreicherer Urenco hat z. B. schon den Fukushima-Betreiber Tepco beliefert, in der Ukraine das nunmehr von Russland besetzte AKW Saporischschja und aktuell auch die neuen Atomkraftwerke in den Vereinigten Arabischen Emiraten am Persischen Golf. Diese Beteiligung an derart vielen brisanten Atomprojekten weltweit halten wir für unverantwortlich. Und mit Atomausstieg hat all das absolut nichts zu tun.

Die Menschen in Deutschland können gegen das geplante Joint Venture etwas tun und selbst aktiv werden. Können Sie uns erklären was genau?

Eickhoff: Bis zum 3. März sind Einwendungen beim niedersächsischen Umweltministerium gegen das Vorhaben von Framatome und Rosatom in Lingen möglich. Die Anti-Atomkraft-Initiativen haben dazu auch Sammeleinwendungen vorbereitet. Wir rufen nachdrücklich zur Beteiligung auf, um einen breiten gesellschaftlichen Protest zu signalisieren. Alle Infos zum Mitmachen finden sich hier: Infos zur Erweiterung der Brennelementefabrik Lingen

Wladimir Sliwjak, Jahrgang 1973, gehört zu den Mitbegründern der russischen Umweltorganisation Ecodefense und engagierte sich u.a. gegen die Verschiffung von abgereichertem Uran aus der Anreicherungsanlage in Gronau nach Sibirien. 2021 wurde er mit dem Right Livelihood Award, dem Alternativen Nobelpreis, ausgezeichnet. Nach der Verleihung blieb er in Deutschland.

Matthias Eickhoff, Jahrgang 1966, ist einer der Sprecher des Aktionsbündnis Münsterland gegen Atomanlagen. Seit der Atomkatastrophe in Tschernobyl engagiert er sich gegen Atomkraft. Er arbeitet als Übersetzer und Autor.

Matthias Eickhoff, Foto: privat

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