Die Türkei vor dem Einstieg ins Atomzeitalter

Das erste türkische Atomkraftwerk soll demnächst ans Netz gehen. Wir fragten Özgür Gürbüz, den Mitbegründer der türkischen Umweltschutzorganisation Ekosfer, wie die türkische Öffentlichkeit den Einstieg ins Atomzeitalter wahrnimmt. Interview: Horst Hamm

Herr Gürbüz, am AKW-Standort Akkuyu an der türkischen Mittelmeerküste soll der erste von vier Reaktoren noch im Jahr 2024 in Betrieb gehen. Was sagt die türkische Öffentlichkeit zu diesem Projekt?

Es ist 23 Jahre her, dass der Versuch, ein Kernkraftwerk zu bauen, vom früheren Energieminister angekündigt wurde. Das Projekt hat sich verzögert, aber wir befinden uns jetzt in der Endphase, und der erste Reaktor soll, wie Sie sagten, 2024 in Betrieb gehen. Die überwiegende Mehrheit der Medien in der Türkei wird von der Regierungspartei AKP kontrolliert, so dass es keine echte Debatte darüber gibt. In den letzten 23 Jahren hat die Regierung nie eine Debatte mit der Anti-Atom-Bewegung geführt. Die Oppositionsparteien kritisieren das Akkuyu-Projekt vor allem wegen des teuren Stroms, aber sie beziehen keine eindeutige Position gegen die Kernenergie. Betrachtet man jedoch die öffentlichen Meinungsumfragen, so zeigt sich eine klare Ablehnung der Kernkraft. In den Berichten von der Research-Organisation Konda zum Klimawandel geben nur 5 Prozent der Bevölkerung an, dass sie Strom aus Kernkraftwerken bevorzugen würden. Eine andere Umfrage desselben Unternehmens ergab, dass nur 19 Prozent der Menschen in der Kernkraft eine Lösung für die Energieabhängigkeit sehen, während 71 Prozent für Solarenergie und 64 Prozent für Windkraft sind. Vergleichbare Umfragen gibt es seit Jahren: 2011 stellte das Marktforschungsinstitut IPSOS fest, dass 71 Prozent der Menschen in der Türkei gegen die Kernenergie sind. Es gäbe kein Atomkraftwerk in der Türkei, wenn die Regierung auf die Menschen gehört hätte.

Rosatom bekommt für die Hälfte des in Akkuyu erzeugten Stroms 12,35 Dollar-Cent pro Kilowattstunde, die andere Hälfte wird nach Marktpreisen bezahlt. Ist Atomstrom für die Türkei damit nicht viel zu teuer?

Doch! Atomstrom ist unglaublich teuer. Bei den Ausschreibungen für Solar- und Windenergie boten die Unternehmen, die den Zuschlag erhielten, zwischen 2 und 3 Cent pro kWh und sogar noch weniger. Der garantierte Abnahmepreis für Akkuyu beträgt 12,35 Dollar-Cent pro kWh für 15 Jahre. Atomstrom ist in der Türkei 4 bis 5 Mal teurer als Solar- oder Windenergie. Selbst wenn wir Batteriespeicher hinzufügen, wird Atomstrom immer noch teurer sein. Atomkraft ist gefährlich und macht die Türkei von anderen Ländern abhängig.

Wird das in der Öffentlichkeit diskutiert?

Es ist inzwischen allgemein anerkannt, dass die Kernenergie teuer ist. Das haben wir schon immer gesagt, aber jetzt, wo allen klar wird, was das Abkommen mit Russland bedeutet, sehen die Menschen, dass das Atomprojekt ernsthafte Folgen für die türkische Wirtschaft haben wird. Auch die Oppositionsparteien führen dieses Argument jetzt sehr oft an, und es gibt kaum eine ernstzunehmende Person, die etwas anderes behauptet. Die Regierung und das russische Unternehmen Rosatom ziehen es vor, nicht über wirtschaftliche Fragen zu sprechen. Vor dem Abkommen mit Russland behaupteten viele Befürworter der Kernenergie, dass die Kernenergie eine billige Stromquelle sei. Seit sie mit der Realität konfrontiert werden, ist die Behauptung vom Tisch, "Atomstrom sei billig".

Betreiber ist der russische Staatskonzern Rosatom. Begibt sich die Türkei damit in große Abhängigkeit von Russland?

Die Energieabhängigkeit der Türkei von Russland hat ein Rekordniveau erreicht. Im vergangenen Jahr stammten 40,7 % der Öleinfuhren, 39,5 % der Gaseinfuhren und 38,7 % der Kohleeinfuhren aus Russland. Mit dem AKW Akkuyu wird Russland nun auch auf dem türkischen Strommarkt eine wichtige Rolle spielen. Dieses Mal haben wir nicht einmal die Möglichkeit, den Lieferanten zu wechseln! Die Technologie und die Betriebskapazitäten gehören den Russen.

Ich weiß, dass Sie und Ekosfer das Projekt öffentlich kritisieren. Haben Sie Verbündete in der Türkei, die an ihrer Seite stehen?

Wir halten Atomkraft für teuer und gefährlich. Gleichzeitig macht sie die Türkei abhängig von ausländischen Quellen und bringt ihr ein riesiges ungelöstes Atommüllproblem. Deshalb sind wir gegen Atomkraft, egal ob in Deutschland, den USA, China oder der Türkei. Wir sind eine Nichtregierungsorganisation, die sich dafür einsetzt, dass der Klimawandel gestoppt wird, und sehen, dass die Atomindustrie die notwendigen Mittel stiehlt, die in Energieeffizienz und erneuerbare Energietechnologien investiert werden müssten. Es geht also nicht nur um Erdoğans Regierung, wir kritisieren auch die Oppositionsparteien, wenn sie eine Pro-Atomkraft-Haltung einnehmen. Wir wollen eine Welt ohne Atomkraft.

Ich habe gelesen, dass Alparslan Bayraktar, der stellvertretende türkische Minister für Energie und natürliche Ressourcen, angekündigt hat, dass die Türkei über den Bau eines zweiten Kernkraftwerks in Thrakien im Nordwesten der Türkei in Zusammenarbeit mit China diskutiert. Kann dieses Projekt noch gestoppt werden?

Nun, das ist die Art von Ankündigung, die wir von Minister Bayraktar von Zeit zu Zeit hören. Tatsache ist, dass es ein zweites Kernkraftwerksprojekt in Sinop gab und dazu eine theatralische Veranstaltung zur Umweltverträglichkeitsprüfung abgehalten wurde. Dieses Projekt wurde abgesagt und das französisch-japanische Konsortium aufgelöst. Japan hatte darum gebeten, den im Vertrag über die Abnahmegarantie zugesagten Preis zu erhöhen. Die Türkei wollte billige Kernenergie, die es aber nicht gibt. Ob China sie liefern kann oder nicht, wissen wir nicht, aber so wie wir nicht alle Einzelheiten des Abkommens zwischen Russland und der Türkei über Akkuyu kennen, gibt es viele Nebenaspekte, die mit Atomabkommen einhergehen. Nichts ist transparent, so dass in der Türkei verrückte Geschäfte gemacht werden können, die dem öffentlichen Interesse zuwiderlaufen. Wir haben viele Beispiele gesehen.

Vergangenen Mai wurde Präsident Erdoğan wiedergewählt. Hat die Wahl irgendwelche Folgen für die aktuelle Atompolitik?

Nein. Die AKP wollte schon immer ein Kernkraftwerk bauen, und wir erwarten keine Änderung dieser Politik, weil die Opposition dies nicht als vorrangigen Bereich ansieht, um die Position der Regierung in Frage zu stellen. Das ist natürlich ein großer Fehler der Oppositionsparteien, denn Atomkraft blockiert die Energiewende in der Türkei, und mit der Energiewende gehen wichtige wirtschaftliche und soziale Entwicklungen einher.

Wissen Sie, woher der Uranbrennstoff stammt, der in Akkuyu genutzt werden soll?

Gemäß dem Abkommen zwischen Russland und der Türkei wird die Projektgesellschaft, die sich im Besitz russischer Staatsunternehmen befindet, für die Treibstoffversorgung verantwortlich sein. Interessanterweise gaben die beiden Länder vor den Präsidentschaftswahlen zusammen mit dem Energieministerium bekannt, dass der erste frische Treibstoff an den Standort geliefert worden sei. Nach den Wahlen haben wir erfahren, dass sich die Eröffnung des ersten Blocks bis 2024 verzögern würde.

Die Türkei verfügt über fünf Regionen, in denen Uran abgebaut werden könnte. Was halten Sie von den Plänen, Uranbergbau im eigenen Land zu beginnen?

Es gibt keine Gewissheit über Uranabbau in der Türkei, da große Zweifel bestehen, ob sich der Abbau überhaupt lohnt. Allerdings eröffnet das internationale Abkommen zwischen Russland und der Türkei die Möglichkeit zum Bau einer Brennstofffabrik, wobei bisher jedoch kein gesondertes Abkommen zu einem solchen Projekt unterzeichnet wurde. Ich glaube auch nicht, dass das machbar ist, aber es könnte für einige politische Vorteile genutzt werden. Der Aufbau des gesamten Brennstoffkreislaufs in der Türkei wird auf Hürden stoßen: wirtschaftlich und politisch. Und es bleibt die Frage, ob es in der Türkei genug Uran gibt, um überhaupt den Bedarf des AKW Akkuyu zu decken.

Mitte April haben wir gemeinsam den ersten türkisch-sprachigen Uranatlas herausgegeben. Hilft der Atlas, den geplanten Uranbergbau in der Türkei noch zu verhindern?

Der Atlas ist die erste umfassende Quelle in türkischer Sprache zur Wirklichkeit des Uranabbaus. Wir haben den Bericht an relevante NGOs geschickt und ihn bei öffentlichen Versammlungen verteilt. Der Bericht ist auch digital über unserer Website verfügbar. Wir hoffen, dass er denjenigen die notwendigen Informationen liefert, die sich gegen Uranabbau und Atomkraft in der Türkei engagieren. Er ist eine sehr informative Quelle für alle – vom Journalisten bis zum Studenten. Wir freuen uns, dass es diese Veröffentlichung gibt und danken allen, die dazu beigetragen haben.

Wie wird der Atlas in der Öffentlichkeit wahrgenommen?

Unabhängige Medien haben Interesse am Uranatlas gezeigt. Auch Menschen, die sich gegen Uranabbau und Kernkraftwerksprojekte engagieren, zeigen Interesse. Nicht zuletzt ist die türkische Ausgabe des Uranatlas bereits zu einer wichtigen Informationsquelle in der Bibliothek von Ekosfer geworden. Wir versuchen, gegen die Desinformation über Kernenergie anzugehen, indem wir korrekte Informationen verbreiten, und der Uranatlas erfüllt diesen Zweck sehr gut.

Zu Özgür Gürbüz: Özgür Gürbüz, geboren 1972, arbeitet seit 1994 als Journalist zu Wirtschafts-, Energie- und Umweltthemen für verschiedene Zeitungen, Radiosender und Zeitschriften in der Türkei und im Ausland. Er ist Mitbegründer der türkischen Umweltschutzorganisation Ekosfer.

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